Vor etwas über vier Jahren habe ich mich mit der Hockeynationalmannschaft und vielen anderen Athleten auf den Weg zu den olympischen Spielen in Rio gemacht. Wir hatten mehrere Koffer voll Klamotten bekommen, auf jedem einzelnen Teil waren die olympischen Ringe gedruckt. Allein dieses Symbol löste jedes Mal wieder einen kleinen Endorphin-Kick in mir aus. Wir stiegen also aus dem Flugzeug und auf einmal war es überall: an den Wänden des Flughafens, als Stempel in meinem Reisepass, auf Straßenschildern und Brotboxen.
Es waren meine ersten olympischen Spiele, ich war 19 und klebte seit einigen Wochen an den Lippen meiner Mannschaftskolleginnen, die bereits an olympischen Spielen teilgenommen hatten. Ihre Geschichten und Erzählungen lösten einen ähnlichen Endorphin-Kick in mir aus. Wir stiegen also aus dem Bus, angekommen im olympischen Dorf und ich erinnere mich, wie ich einfach alles atemberaubend fand. Ich stellte außerdem fest, dass ich mir, trotz all der Erfahrungsberichte und auch Fotos aus London oder Peking, keinerlei Vorstellungen vom Dorf gemacht hatte. Keine Erwartungen, die erschüttert werden konnten. Alles war einfach nur perfekt, wie auch nicht: es war das olympische Dorf.
Diese Wahrnehmung veränderte sich keineswegs, als wir unser Hochhaus betraten und vor einem riesigen Rohrbuch standen. Aus der Decke im Eingangsbereich tropfte es recht stark in mehrere Eimer am Boden. Egal, olympisches Dorf! Fröhlich tänzelten wir mit unseren Koffern um die Baustelle und hoch zu unseren Apartments. Wir öffneten die Tür, offensichtlich wieder ohne jegliche Erwartungen, und traten ein in ein fast gänzlich leeres Apartment. Wir verteilten uns in unsere Zimmer, Kleiderschrank und Betten aus Plastik und Stoff: sah alles perfekt aus durch die olympische Brille. Wir erkundeten gerade die restlichen Räume, als uns mitgeteilt wurde, dass wir uns zu sechst ein Bad teilen müssten. Das zweite Bad hatte ein irreparables Gasleck und es war zu gefährlich, es regelmäßig zu betreten. Auch das konnte unsere Begeisterung in keinster Weise schmälern. Wir rissen bloß ein paar Witze, schnappten uns unsere Akkreditierungen und erkundeten völlig unbekümmert das olympische Dorf. Man sah an einigen Stellen, dass offensichtlich nicht alles fertig geworden war: Trink-Stationen waren leer oder nicht fertig aufgebaut, Markierungen am Boden hörten teilweise einfach mitten auf dem Weg auf. Egal, wir schauten uns alle um, als seien wir gerade auf einem fremden Planeten gelandet, um uns herum ausschließlich Gleichgesinnte. Wir unterschieden uns alle nur durch den Aufdruck auf unseren Shirts, die staunenden und leuchtenden Augen waren überall wiederzufinden.
Man überließ uns die die nächsten beiden Tage, um 'Touri zu spielen'. Wir sollten uns alles ausgiebig angucken, rumlaufen, Fotos mit Idolen machen und einfach auf dieses Dorf klar kommen. Vor der Ankunft hielt ich das noch für etwas übertrieben, danach für absolut notwendig. Ich gewöhne mich also so langsam daran, dass man in der Mensa neben Usain Bolt Schlange steht, man alles und überall umsonst bekommt und zu den 11.000 Olympioniken der Welt gehört. Natürlich haben wir uns im Vorfeld darüber ausgetauscht, wen wir unbedingt hoffen zu treffen, von den großen Stars der Sportwelt. Neben dem Basketballteam der USA stand Novak Djokovic für mich ganz oben auf der Liste. Gerade als ich dachte, ich könnte den Touri-Modus verlassen und wieder zur ambitionierten Athletin zurückkehren, begegneten wir Djokovic bei seinem abendlichen Regenerationslauf. Erwartungsvoll starren mich meine Mannschaftskolleginnen an: warum geht sie denn nicht hin? Ich, hingegen, bin das erste mal in meinem Leben komplett versteinert, 'Starstruck' ist hier wohl der richtige Ausdruck. Glücklicherweise reagiert eine meiner Freundinnen schnell und rennt Djokovic hinterher, um ihn nach einem Foto zu fragen. Er war (natürlich) der aller coolste, antwortete ihr auf Deutsch und kam gemeinsam mit ihr fröhlich auf uns zugejoggt. Da ich mich immer noch nicht bewegen konnte, mussten sich alle, inklusive Djokovic, um mich drum herum positionieren. Ich weiß bis heute nicht wie, aber auf dem Foto habe ich ein großes Grinsen im Gesicht.
In der Garage unter unserem Hochhaus befand sich die Wäschestation, unter anderem für Deutschland, Belgien und Australien. Seinen Wäschebeutel mit angebrachtem QR-Code konnte man hier abgeben und am nächsten Tag frisch gewaschen wieder abholen. Bereits am zweiten Tag, scheiterte das gut gedachte System und kein Wäschebeutel wurde mehr richtig zugeordnet. Die QR-Codes wurden komplett über den Haufen geworfen. Stattdessen sammelten sich die Athleten im Lager der Wäschestation, durchsuchten querfeldein die Beutel, in der Hoffnung seinen Wäschebeutel anhand der eigenen Unterwäsche identifizieren zu können. Ansonsten hatten wir ja alle exakt die selben Klamotten im Gepäck. Wie immer, schien es für niemanden ein Problem die Unterwäsche Fremder zu durchsuchen und seine eigene vielleicht nie wieder zu finden: wir waren ja im olympischen Dorf.
Glücklicherweise hatte unser Staff diese Art von Erlebnis vorhergesehen und für uns vor Turnierstart noch einen Ausflug nach Argentinien geplant. Hier sollten wir noch einmal gegen Argentinien spielen. Außerdem sollte so unsere 'Touri-Phase' ein Ende finden, sodass wir bei Rückkehr ins Dorf bereit für den eigentlich Turnierwahnsinn waren.
Wir kommen also für das zweite Mal im olympischen Dorf an. Der physische Abstand hatte uns gut getan, wir konnten diese ersten aufregenden und beeindruckenden Tage verdauen und nun endlich den entsprechenden Fokus für die Spiele gewinnen. Unser Spielplan war stramm. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, fühlt es sich an wie jedes Turnier: Essen, Aktivierung, Besprechung, lange Busfahrt, laute Musik, Anpfiff, Hitzeschock, Abpfiff, Cool Down, lange Busfahrt, leisere Musik, Essen. Zwei Wochen später wird unser letztes Spiel abgepfiffen und das Ergebnis verrät uns, dass wir es tatsächlich geschafft hatten: wir hatten eine Medaille bei den olympischen Spielen gewonnen. Alleine das Schreiben dieses Satzes versetzt meinen Körper in einen Ausnahmezustand. Direkt nach dem Spiel musste ich zur Dopingkontrolle, weg von der feiernden Mannschaft und noch einmal abliefern, dieses mal eine Urinprobe (Der verspürte Druck ist an dieser Stelle nicht zu unterschätzen. Die ganze Mannschaft wartet im Bus auf einen und trinkt die Getränke leer). Ich komme das erste mal nach Abpfiff ein kleines bisschen runter, habe ein Bier in der Hand (geht meistens schneller) und versuche zu begreifen, was da draußen gerade passiert ist. Neben mir sitzt eine meiner Gegnerinnen, ihr geht es genau so und doch ganz anders. Neuseeland hatte zum zweiten Mal in Folge das Spiel um Platz Drei verloren und ging erneut mit leeren Händen nach Hause. Wir hatten ein Tor mehr geschossen, vielleicht einen Prozent mehr gegeben. Ich hatte, meinem Ermessen nach, alles, sie nichts.
Wir stiegen im Dorf aus und fühlten uns wie Helden. An der Bushaltestelle jubelten einem die Volontäre zu. Man musste hier niemandem erklären, was eine Medaille bei den olympischen Spielen bedeutet. Wir betraten die Mensa, singend und tanzend, mit Deutschlandflaggen umgebunden und alle schauten uns an. Die Wochen zuvor waren die Rollen vertauscht: wir saßen in der Mensa, sahen Athleten feiern und jubeln, jetzt waren wir an der Reihe. Wir holten uns alle ein Stück Pizza und halfen uns gegenseitig zu begreifen, was wir erreicht hatten. Der restliche Abend, inklusive Medaillenzeremonie und Party im Deutschen Haus, bleibt für immer unvergessen. Dafür sorgt auch eine ziemlich dicke Delle in meiner Medaille.
What's that icy thang hangin' 'round my neck? That's bronze show me some respect (oh ah) - Meghan Trainor in Me Too (unserem Turniersong)
Zwei Tage nach unserem Bronze-Erlebnis stand bereits die Abschlussfeier an. Auf der einen Seite hatte man das Gefühl schon ewig unterwegs zu sein (zu dem Zeitpunkt waren wir seit über die Wochen auf Tour). Auf der anderen Seite waren die Spiele wie im Flug vorbei gegangen. Wir rappelten uns auf und machten uns als TeamDeutschland auf dem Weg ins Stadion. Ich hätte mich daran gewöhnen können, vor einer Party nicht überlegen zu müssen, was ich anziehen wollte. Wir hatten etwas ausgefallene Outfits vorgeben, aber mein Kopf war durchaus dankbar für alles, das ihm keine Kopfschmerzen bereitete. Wir kamen im Stadion an und es erwartete uns die allergrößte Party, auf der ich je eingeladen war. Überall wo man hinsah, standen verkleidete Menschen, alles glitzerte und grinste. Wir schlenderten durch diese überdimensional große Choreografie wie über einen brasilianischen Karneval. Von den als wegweisende Pfeile verkleideten Tänzern wurde uns die Richtung gezeigt während Kygo im Hintergrund ein paar neue Hits auflegte. Es fing auf einmal ziemlich stark an zu regnen. Wir schlüpften jeweils unter einen Umhang aus Plastik und die Show konnte weitergehen. An dem Abend blieb meine Medaille im olympischen Dorf. Natürlich war unsere Laune nicht zu übertreffen, seit zwei Tagen hatte man durchgängig das Gefühl auf Wolke Sieben zu schweben. Ich kann mich nicht in meine Gegnerin aus Neuseeland hineinversetzen, doch am Abend der Abschlussfeier spielte die Medaille keine allzu große Rolle. In diesem Stadium voller Athleten, Tänzer, Fans und Volontären schien die olympische Magie wie unter einer Kuppel für uns kondensiert. Dabei sein ist alles.
Am Ende der Feier verließen die Athleten das Stadion mit den Kostümen und glitzernden Kopfbedeckungen des Tänzer. Ich weiß bis heute nicht, ob diese freiwillig abgegeben wurden oder nicht. Langsam trudelten alle verkleidet in ein stilles Dorf ein. Spontan entwickelte sich vor dem Deutschen Hochhaus die verrückteste Hausparty, die ich je miterleben sollte. Es fing an mit unserer kleinen Musikbox, die Diskolichter an die Decke projizierte und endete mit der vermutlich internationalsten Party jemals. Das ganze Dorf versammelte sich an diesem einen Fleck und alle Nationen mischten sich. Es wurden fleißig Klamotten, funkelnde Kostüme und Handynummern ausgetauscht. Zu einem Zeitpunkt musste ich über meinem Kopf hinweg ein lebensgroßes Känguru aus Plastik weiterreichen. Das Maskottchen aus der Lobby der australischen Mannschaft legte gerade den Stage-Diving-Trip seines Lebens hin.
Ich könnte ewig weitererzählen. Die Erfahrungen und Erlebnisse aus dem olympischen Dorf sind wie ein Film in meinem Kopf und das hier war nur der Trailer. Im Nachhinein glaube ich, dass all diese Erfahrungen sehr viel mehr mit dem eigentlichen Turnier zu tun haben, als man in dem Moment begreifen konnte.
Wir sind damals nach Rio gereist, wohlwissend, dass die olympischen Spielen für den Hockeysport das allergrößte sind. Doch woher kommt diese Wahrnehmung eigentlich? Die Gegner sind an sich die gleichen, man begegnet sich eigentlich jedes Jahr in irgendeinem Turnierformat. Die Zuschauerzahlen kommen sehr auf das Austragungsland an. Brasilien war nicht übermäßig hockeybegeistert. Ähnliche Zuschauerzahlen wurden auch bei Europameisterschaften schon erreicht, Weltmeisterschaften überbieten olympische Spiele auch mal. Das Turnier findet nur alle vier Jahre statt und anscheinend haben Raritäten in dieser Welt mehr Wert. Außerdem spielt das Dorf in meiner Wahrnehmung eine enorme Rolle. In der Mensa stand man nicht nur neben Usain Bolt, sondern saß auch mit dem deutschen Ruderachter an einem Tisch, tauschte sich aus über Ängste und Erfolge. Auf den Bildschirmen am Eingang der Mensa liefen immer alle Wettkämpfe. Jedes Mal nahmen wir uns vor und nach dem Essen einen Moment, um bei Deutschen mitzufiebern. Oder war vielleicht irgendwo einer oder eine, den oder die man beim Wäschebazaar kennen gelernt hatte? Dieser magische Zusammenhalt und dieses Gefühl, für einen kurzem Moment in dieser als perfekt wahrgenommenen Parallelwelt zu leben, in welcher der Sport die Aufmerksamkeit bekommt, die man ihm sein ganzes Leben lang schon widmet, sind einzigartig. Für mich sind sie der Inbegriff von Olympia. Dabei sein ist alles. Man vergisst alles, was 'draußen' passiert.
Gleichzeitig schaut (gefühlt) die ganze Welt auf die Wettkämpfe auf der olympischen Bühne. Wir, als Hockeyspieler und auch viele andere Athleten, bekommen in Deutschland im Vergleich zu dieser Zeit wenig Aufmerksamkeit. Auch in diesem Zusammenhang sind die olympischen Spiele einzigartig, denn sie bieten uns eine Möglichkeit als Athlet Ansehen zu erzeugen, das wir sonst nicht gewohnt sind. Wie gesagt, an sich ist alles, wie bei jedem anderen Turnier auch, nur die Bühne ist eine andere. Es sind eben olympische Spiele, das höchste der Gefühle. Dabei sein ist wirklich alles.
All diese Gefühle machen es mir unheimlich schwer, objektiv auf eine Austragung der olympischen Spiele in Tokyo zu schauen. Natürlich möchte ich gerne, dass sie stattfinden. Ich stelle seit meiner Jugend alles hinten an, um an den olympischen Spielen teilzunehmen. Wir als Team arbeiten seit vielen Jahren jeden Tag unglaublich hart an uns, um dort auch erfolgreich sein.
Doch dieses Jahr hat (wieder) deutlich gemacht, dass es nunmal wichtigeres als den Sport gibt. Natürlich hängen an den olympischen Spiele undenkbar viele Träume. Aber es hängen so viele Leben davon ab, dass mit dieser Pandemie angemessen umgegangen wird. Das beinhaltet auch, dass finanzielle Einbußen hinten angestellt werden müssen. Für mich persönlich und ich denke, für viele SportlerInnen weltweit, sind die olympischen Spiele das allergrößte, was wir in unserer Sportlerkarriere und vielleicht auch in unserem Leben erreichen können. Doch nichts ist größer als das Leben selbst.