Ich habe das Thema (gestörtes Verhältnis zu Essen) schon an ein paar verschiedenen Stellen angesprochen und es hat unter Frauen* immer Resonanz gefunden. Ob beim ersten oder zehnten Austausch: man kennt die Lage und Gefühle der anderen teilweise so gut, dass man gegenseitig die Sätze hätte beenden können. Meistens kommen wir aus mehr oder weniger verschiedenen Bereichen, Berufen und Freundesgruppen. Das Problem hat unterschiedliche Ursachen, Symptome und Konsequenzen.
Ich hab mich schon oft gefragt, wann und warum ich das Verhalten eines gezügelten Essers* entwickelt habe. Manchmal denke ich, es liegt ausschließlich daran, dass es irgendwann als Thema in meinem Umfeld aufgetaucht ist. Aber dieses Gefühlt täuscht. Ich habe angefangen mich auf extreme Weise mit Ernährung und meinem Körper auseinanderzusetzen, bevor ich von gestörtem Essverhalten, Bingen, Intuitivem Essen und Body Shaming gehört habe. Ich hab dieses Verhalten nicht entwickelt, weil ich damit konfrontiert wurde. Ich habe meinen Gefühlen und meinem Verhalten aber erstmals einen Namen geben können, als andere Frauen* es geschafft haben, das Thema in der Öffentlichkeit zu platzieren.
Vielmehr vermute ich mein gestörtes Verhältnis zu Essen und meinem Körper entwickelt zu haben, weil ich als Sportlerin viel damit konfrontiert wurde, wie man sich “richtig” ernährt, weil mein Fitness-Level am Aussehen meines Körpers und Körperfettanteils festgemacht wurde, weil überall in den (sozialen) Medien für eine viel zu lange Zeit nur sehr dünne Frauen gezeigt wurden.
Jetzt, wo gestörtes Essverhalten und gesellschaftlicher Druck in Bezug auf den weiblichen* Körper mehr besprochen werden, hat sich ein neuer Gedanke angepirscht: Kann mein Problem denn überhaupt so schlimm sein, wie es sich anfühlt, wenn so viele um mich herum auch davon betroffen sind? Relativiert es das?
Spätestens die Corona Pandemie hat mir dazu verholfen die Frage mit einem klaren Nein zu beantworten. Doch was hat mich daran zweifeln lassen, dass mein Leid nicht oder weniger schlimm ist, ausschließlich aus dem Grund, dass es viele Frauen* betrifft?
Es ist zum einen durch die Logik der Singularisierung (beschrieben vom Soziologen Andreas Reckwitz) zu erklären. Durch Gemeinsamkeit wird Gewöhnlichkeit impliziert und eine Sache oder Gefühl verliert an Wert.
Zum anderen liegt es am Patriarchat. Damit meine ich nicht, dass die alleinige Ursache für gezügeltes Essverhalten die Übermacht weißer Männer bzw. Väter ist (sehr verkürzte Erläuterung des patriarchalen Systems). Gar nicht. Dennoch ist mein Gefühl, dass die patriarchale Welt Frauen* extrem auf ihr Äußeres begrenzt und vor allem eine Dynamik geschaffen hat, in welcher der Wert einer Frau* durch das männliche Auge und dessen Bewertung bestimmt wird (#malegaze).
Insgesamt bin ich sehr froh in einer Zeit groß zu werden, in der Feminismus längst Fuß gefasst hat. Trotzdem merke ich, dass ich tagtäglich gegen einen Strom anschwimme, der (bewusst oder unbewusst) Frauen* aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt, klein und weniger wichtig als Männer* macht. Für mich als 25-jährige ist es daher immer noch relativ neu und ungewohnt, dass eine Thematik wie diese (mental belastend, Lebensqualität raubend) einen Platz in den sozialen Medien findet, dort besprochen wird und man sich informieren kann.
In den letzten Jahren haben Frauen* ihre Stimme mehr und mehr in der Öffentlichkeit platzieren können (die Stimme muss nicht gefunden werden, ihr muss nur Platz gemacht werden, also kusch kusch). Damit konnten und können auch erstmals Themen platziert werden, die in erster Linie Frauen* betreffen. Dank dieser Entwicklung, erlaube ich mir, nicht mich als “Problem” zu sehen und ein gestörtes Essverhalten nicht zu verharmlosen. Dank dieser Entwicklung, schreibe ich diesen Text und finde den Mut mich mitzuteilen, wohl wissend, dass ich mit meinen Struggles nicht alleine bin. Es ist Teil des patriarchalen und misogynen Systems, dass Frauen* auf ihr Aussehen beschränkt werden und ihnen das Gefühl vermittelt wird, für unser Mitteilen sei kein Platz. Aber das ist Quatsch. Wir haben schon zu lange in einem System nebeneinanderher gelitten, obwohl wir uns gemeinsam hätten unterstützen können.
Du bist nicht allein mit dem, was Du empfindest.
Du bildest es Dir nicht ein.
Du musst Dich nicht einfach mal zusammenreißen.
Es ist nicht weniger schlimm, weil es viele betrifft.
Wir brauchen nicht ein neues Schönheitsideal. Wir brauchen so viele neue Schönheitsideale, wie es Frauen* gibt.